Als Peter Kurzeck 2013 im Alter von siebzig Jahren in Frankfurt am Main stirbt, sind die Nachrufe sich einig: Mit ihm, dem in den letzten Jahren wachsende überregionale Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, geht der deutschsprachigen Literatur einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren verloren. Oft bemüht und von Kurzeck selbst zurückgewiesen ist die Rede vom »Chronisten seiner Zeit«, die sich unter anderem dem auf zwölf Bände konzipierten autobiographischen Romanzyklus Das alte Jahrhundert verdankt, von dem zu Lebzeiten des Autors fünf Bände publiziert wurden. Starke Beachtung fand zudem das Hörbuch Ein Sommer, der bleibt, worin er ohne Manuskriptvorlage fast fünf Stunden lang verschiedene Episoden seiner Kindheit im Dorf Staufenberg erzählt; es wurde 2008 als ›Hörbuch des Jahres‹ ausgezeichnet.
Bereits Kurzecks erster veröffentlichter Roman Der Nußbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kaufst und Interviews aus den letzten Jahren seines Lebens deuteten darauf hin, dass er in seinen Anfängen nicht ausschließlich schreibend, sondern auch zeichnend und malend tätig gewesen ist. Doch erst im Frühjahr 2015 tauchten umfangreiche Bestände seines bildnerischen Werks auf: eine Reihe von Ölbildern und rund 250 farbige Arbeiten auf Papier, im Wesentlichen bis zu seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr entstanden. Während in den Jahren um 1960 das Vorbild von Maurice Utrillo (1883–1955) offensichtlich und zwischen 1963 und 1965 der Einfluss Bernard Buffets (1928–1999) nicht von der Hand zu weisen ist, entwickelt Kurzeck in dieser letzten Phase einen unverwechselbar eigenen Ausdruck. In seinem Werk gehen eine strenge Bildordnung und ein ausgeprägter Sinn für Farbwerte eine Synthese ein. Der frühen Erfahrung von drohender jäher Auslöschung seiner Umwelt und realem Verlust setzt der Schriftsteller Kurzeck den Versuch einer Rettung durch Bewahrung in der Erinnerung entgegen. Ob und in welcher Form Ähnliches auch im Bildwerk auszumachen ist, kann nun erkundet werden. Nicht zuletzt öffnet die Entdeckung des bildnerischen Werks aber auch die Möglichkeit eines neuen Blicks auf sein literarisches Schaffen, in dem sowohl die Auseinandersetzung mit Werken der bildenden Kunst als auch Bildhaftigkeit in vielfältiger Brechung eine zentrale und bisher kaum beachtete Rolle spielen.
In einer Kooperation der institute für kunstgeschichte und für germanistik der justus-liebig-universität gießen mit der universitätsbibliothek und dem neuen kunstverein gießen werden in zwei Ausstellungen mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung die Bilder Peter Kurzecks gezeigt. Parallel hierzu präsentiert die Fotokünstlerin Christina Zück im Neuen Kunstverein eine Auswahl ihrer Aufnahmen der Gegend um Staufenberg. Und mit den im Ausstellungsraum der Universitätsbibliothek gezeigten Fotografien reagiert sie auf die Gießen-Bilder von Peter Kurzeck mit ihrem Blick auf die gewandelte Stadt.
Peter Kurzeck hat von Kind auf gemalt und geschrieben. Mit dem Älterwerden ging jedoch die Erfahrung einher, dass die zur Verfügung stehende Zeit nicht ausreicht, um beides mit höchstem Anspruch zu betreiben. Deshalb entschloss er sich im Alter von zweiundzwanzig Jahren dazu, so lange nicht mehr zu malen, bis genügend Zeit dazu vorhanden sei. Die Entscheidung fiel zugunsten der Literatur aus, weil »ich gemerkt habe, daß das Schreiben für mich das Schwierigere war«. Doch war sie damals nicht als endgültige gedacht. Im Roman Vorabend heißt es: »Sobald du mit dem Schreiben ein bißchen weiter bist und vielleicht auch ein bißchen mehr Zeit wieder hast […], dann jedenfalls malst du auch wieder! Unbedingt! […] Und seither nie mehr!« Die bisher bekannten datierten Bilder Kurzecks sind zwischen seinem fünfzehnten und dreiundzwanzigsten Lebensjahr entstanden. Sie sind trotz wiederkehrender Sujets keiner einheitlichen Motivik verpflichtet. Die Bandbreite reicht vom Selbstbildnis über Seestücke, Landschaftsdarstellungen bis hin zu Stadtansichten, Häuserfronten und Straßenzügen. Es scheint, dass gerade Reisen inspirierend auf Kurzeck gewirkt haben: Zahlreich sind die Bilder von Paris, hinzu kommen solche von Prag, Venedig, Triest, Mailand oder Wien. Doch auch Regionales hält Einzug ins bildkünstlerische Werk: Ölbilder und farbige Zeichnungen existieren von Gießen und Lollar. Schon durch die vergleichsweise große Anzahl von Bildern ist ein weiterer, atmosphärisch dichter Werkkomplex augenfällig: Elf Bilder, ein jedes versehen mit dem Schriftzug »Konzentrationslager«, erinnern an das KZ Buchenwald.
Im städtischen Ausstellungsraum ›Kultur im Zentrum‹ (›KiZ‹) wird eine Auswahl der Bilder Kurzecks präsentiert, um ihr ganzes Spektrum erstmalig einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Verschiedene dem Werk des Autors entnommene und auf eine Textwand gebrachte Zitate belegen die hohe Bedeutung von Bild und Bildlichkeit für sein schriftstellerisches Schaffen.
o. T. [Gewerbegebiet Lollar], 1965, Öl auf Karton, 80 × 100 cm
o. T., 1965, Öl auf Leinwand, 80 × 100 cm
Paris, Moulin Rouge, 1964, Tusche mit Rohrfeder über Bleistift, aquarelliert, 39,8 × 29,9 cm
Konzentrationslager, nicht datiert, Tusche mit Rohrfeder, aquarelliert, 29,8 × 39,8 cm
o. T., 1963, Tusche mit Rohrfeder über Bleistift, aquarelliert, 23,9 × 32 cm
o. T., nicht datiert, Gouache, 21 × 27,6 cm
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Im bildkünstlerischen Werk Peter Kurzecks, dessen Breite die Ausstellung im ›KiZ‹ vor Augen führt, stellen Bilder mit Motiven aus Gießen vom Herbst 1963 die umfangreichste Werkgruppe dar. Auf sie konzentriert sich die Ausstellung in der Universitätsbibliothek. Neben einzelnen Darstellungen einer heute verschwundenen Innenstadt (etwa des anrüchigen Teufelslustgärtchens und der bekannten Amerikanerbar ›Bel Ami‹) spielen Bilder vom US-Armeegelände, Kurzecks damaligem Arbeitsplatz, eine prominente Rolle. Nicht nur diese, sondern auch andere belebte Orte wie den Kreuzplatz, das heute mit dem ›Elefantenklo‹ überbaute Selterstor oder den Bahnhofsplatz zeigt der Maler stets menschenleer.
Als Schauplatz begegnet das Gießen der Zeit um 1960 – in der Ausstellung auch durch Aufnahmen aus dem Stadtarchiv präsent – ebenfalls in Kurzecks Romanen Keiner stirbt und Der Nußbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kaufst. In einem Kapitel des 1963 in einer ersten Version entstandenen Romans Keiner stirbt wird der Leser auf eine Suche nach ›Lilos Vater‹ mitgenommen, die ihn durch die ganze Stadt führt. Und im Nußbaum ist die Rede von einer »Alleinausstellung« des jungen Protagonisten in seiner Gießener Schule und von ersten Bilderverkäufen an einen Gast in ›Mischas Kneipe‹ im Seltersweg. Materialien aus dem Entstehungsprozess beider Werke sind in der Ausstellung zu sehen.
In Auseinandersetzung mit den Bildern und dem Erzählwerk Kurzecks entstandene Arbeiten der Fotografin Christina Zück bieten eine zeitgenössische Perspektive auf das gegenwärtige Gießen.
Gießen, Löwengasse / Mühlstraße, nicht datiert; Tusche mit Rohrfeder über Bleistift, aquarelliert, 29,9 × 39,8 cm
Gießen, Post Engineer, 1963, Tusche mit Rohrfeder über Bleistift, aquarelliert, 29,9 × 39,8 cm
Gießen, Selterstor, 1963, Tusche mit Rohrfeder über Bleistift, aquarelliert, 29,9 × 39,8 cm
Christina Zück: ohne Titel 2015 (Elefantenklo)
Christina Zück: ohne Titel 2015 (Blumen Corso)
Christina Zück: ohne Titel 2015 (Katharinengasse)
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Christina Zück, geboren 1969 in Gießen und aufgewachsen in Odenhausen, einem Nachbardorf von Staufenberg, lebt in Berlin. Seit vielen Jahren fotografiert Christina Zück immer wieder intensiv in der ihr vertrauten Gegend um Odenhausen und Staufenberg – in letzter Zeit auch angeregt durch Peter Kurzecks Hörbuch Ein Sommer, der bleibt und durch die Lektüre seiner Romane.
Fotografieren war für Christina Zück immer ein Weg, gleichzeitig engagiert und distanziert auf die Menschen und auf die Landschaft ihrer Herkunft zu blicken und so einen Standpunkt zu gewinnen, der es ihr möglich machte, aus bestehenden Verhältnissen hinauszutreten. Ihre Auswahl von Fotos aus verschiedenen Jahrzehnten macht einen gesellschaftlichen und historischen Wandel sichtbar, den auch Peter Kurzeck in seinem vielfältig variierten fortschrittskritischen »Muß doch immer weiter« mit wachsendem Entsetzen beschrieben hat.
In ihrer Arbeit als Fotografin interessiert sich Christina Zück für Phänomene einer verstärkten Hinwendung zu Traditionen und zu überlieferter, zunehmend aber auch kommerzialisierter ›Volkstümlichkeit‹, die zu verstehen ist als Reaktion auf die fortschreitende Digitalisierung aller Lebensbereiche und auf die damit einhergehende Verflüchtigung des Realen. Von dem mit der Digitalisierung einhergehenden Wandel auch der fotografischen Technik bleibt natürlich auch Christina Zücks Arbeit nicht unberührt. Doch nutzt sie die neuen Möglichkeiten, indem sie das Schnappschusshafte als künstlerisches Mittel gezielt einsetzt, aus dem ihre Fotografien bei aller Alltäglichkeit der eingefangenen Szenen ihre suggestive Kraft beziehen.
»Sie hatten vorher (nicht die Frösche, die Menschen, sagte ich) die Straße nach Odenhausen geteert. Geteert, ausgebaut und verbreitert. Immer wieder breiter und noch breiter und die Kurven weg. Auf beiden Seiten den Straßengraben weg. Rechts und links die Fußwege weg. Neue Böschungen, Ingenieursböschungen. Blaupausenböschungen. Amtlich. Dann die Feldwege. Vor acht oder zehn Jahren schon angefangen, die ersten Feldwege zu teeren. Für die Landwirtschaft und damit die Haushaltsmittel ordnungsgemäß. Müssen aufgebraucht werden. Fortschritt. Entwicklung. Und das muß immer weiter so.« (Peter Kurzeck, Vorabend).
Auch der Ausstellungsraum des Neuen Kunstvereins Gießen, ein ehemaliger Kiosk an der Ecke Licher Straße / Nahrungsberg, ist ein ›Kurzeck-Ort‹: »Der alte Friedhof am Nahrungsberg. Sogar an der Friedhofsmauer gibt es eine Schnapsbude mit öffentlichem Pissoir und Windschutz und Vordach. Doch nicht nur als Kantine für die Geister und Totengräber vom Dienst?« (Peter Kurzeck, Keiner stirbt).
ohne Titel 2015 (Lollar)
ohne Titel 2014 (Staufenberg)
ohne Titel 2014 (Staufenberg)
ohne Titel 2014 (Staufenberg)
ohne Titel 2014 (Odenhausen)
ohne Titel 2013 (Amigos, Lollar)
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neuer kunstverein gießen
Begrüßung: Dr. Peter Reuter
Grußwort: Prof. Dr. Peter Winker, Vizepräsident der Justus-Liebig-Universität Gießen
Einführung in die Ausstellung: Ludmilla Schick und Ines I. Voigt, Studentinnen
Begrüßung: Prof. Dr. Marcel Baumgartner
Grußworte: Dietlind Grabe-Bolz, Oberbürgermeisterin der Stadt Gießen; Prof. Dr. Otfrid Ehrismann, Vorsitzender der Peter-Kurzeck-Gesellschaft e. V.
Einführung in die Ausstellung: Steven Kall, Student
Begrüßung und Einführung: Markus Lepper, M. A.
Peter Kurzeck, Bis er kommt
Rudi Deuble und Alexander Losse (Stroemfeld Verlag) präsentieren den von ihnen aus dem Nachlass herausgegebenen sechsten Band aus dem Romanzyklus Das alte Jahrhundert
Zu Text und Bild bei Peter Kurzeck.
Podiumsdiskussion mit Dr. Johannes Ullmaier, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, und Prof. Dr. Marcel Baumgartner
Moderation: Dr. Tilman Spreckelsen, F.A.Z.
Mitgliederversammlung der Peter-Kurzeck-Gesellschaft – Gäste willkommen
Bericht von Rudi Deuble und Alexander Losse zum Nachlass von Peter Kurzeck; Kuratorenführungen zu den Ausstellungen
Peter Kurzeck, Keiner stirbt.
Lesung mit dem Schauspieler Roman Kurtz
Künstlergespräch mit Christina Zück
Spaziergang zur Universitätsbibliothek und Fortsetzung des Gesprächs
Finissage – Führung in der Universitätsbibliothek
Finissage – Führung im Städtischen Kunstraum ›KiZ‹, im Anschluss Filmvorführung:
Filmausschnitte einer Lesung von Peter Kurzeck aus ›Kein Frühling‹ im Jahr 1967
Das Begleitprogramm wurde ermöglicht durch die freundliche Unterstützung des Literarischen Zentrums Gießen e. V. und der OVAG-Gruppe
Ausstellungsraum ›Kultur im Zentrum‹ (›KiZ‹)
Südanlage 3a, 35390 Gießen
Di–So 10:00–18:00 Uhr, Mo geschlossen
Universitätsbibliothek
Otto-Behaghel-Straße 8, 35394 Gießen
Mo–So 7:30–23:00 Uhr
Neuer Kunstverein Gießen
Ecke Licher Str. / Nahrungsberg, 35394 Gießen
Mi 16:00–19:00 u. Sa 14:00–17:00 Uhr u. n. V.
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veranstaltungsorte
hr2 vom 28.01.2016:
www.hr-online.de
Franfurter Rundschau vom 31.01.2016:
www.fr-online.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.02.2016:
maecenas – Frühling 2016 (Magazin der Hessischen Kulturstiftung):
Faust-Kultur (wwweltbühne für Autoren und Künstler):
Saalzettel:
Ausstellungskonzeption:
Marcel Baumgartner, Joachim Jacob, Markus Lepper, Peter Reuter
Redaktion:
Marcel Baumgartner, Sascha Feuchert, Joachim Jacob,
Markus Lepper, Peter Reuter
Studentische Mitarbeit:
Janine Clemens, Leonie Dreier, Lisa Geiger, Leonie Junker,
Steven Kall, Lena Knierim, Hannes Kornherr, Michael Müller,
Jonas Pflugfelder, Julia R. Richter, Ludmilla Schick,
Michael Schmidt, Ines I. Voigt
Ein besonderer Dank geht an:
Carina Wächter, Christian Ostheimer, Manfred Aulbach,
Stroemfeld Verlag (Rudi Deuble und Alexander Losse)
Grafik im Seitenkopf: Ausschnitt aus: Peter Kurzeck, Gießen – Teufelslustgärtchen, nicht datiert [1963]
Tusche mit Rohrfeder über Bleistift, aquarelliert, 23,1 x 26 cm
Webdesign:
Harald Schätzlein · ultraviolett.de
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